Provokation in der Kunst
Ein Interview mit Johannes Schreiter für die Jugendzeitschrift Dran (Ausgabe 2/03)

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Mickey Wiese: Lieber Johannes Schreiter, du hast bereits 1972 einmal gesagt: „Wenn Bilder tatsächlich nichts anderes auszurichten hätten, als zu informieren, dann müssten Schriftbilder eigentlich das Non-Plus-Ultra der bildenden Kunst sein. Das sind sie aber nicht.“

Johannes Schreiter: Ja, ich glaube tatsächlich, dass Kunst nicht nur informieren, sondern auch, vielleicht sogar vor allem, provozieren und aufrütteln soll. Die Grundaufgabe der Kunst ist ähnlich wie die der Schöpfung: es sollen uns die Augen geöffnet werden für den Schöpfergott und das kann gute Kunst, denn das ist sozusagen auch ihr innerer anagogischer Trieb.

Mickey Wiese: Provokation heißt aus dem lateinischen kommend „jemanden herausfordern, herausrufen, hervorlocken“. Wenn Kunst es schafft mich in Frage zu stellen und mich aufzurütteln, werde ich in eine Bewusstmachung getrieben, die jeder inneren Umkehr vorausgehen muss. In der Kirche spricht man sogar von „Vokation“, wenn es um die Bevollmächtigung und Beauftragung geht, ein geistliches Amt auszuüben.

Johannes Schreiter: Man muss aber schon klar machen, dass Kunst niemals eine Art Erlösungsfunktion übernehmen kann. Andernfalls hätte Gott sich die Menschwerdung seines Sohnes sparen können. Jedoch die Fähigkeit zu lösen unterstelle ich ihr durchaus. Kunst kann Sichtblenden beseitigen, intellektuelle Verkrampfungen lösen, temporäre Zwänge und Schikanen aushalten helfen und Antriebe geben, neue Wege einzuschlagen. Ihre Entrückungstendenz aus den Ghettos des nur Denkbaren ist ebenso befreiend wie notwendig.

Mickey Wiese: Ich habe da letztens ein Bild von George Grosz gesehen, wo er in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts den Christus am Kreuz mit Gasmaske und Soldatenstiefeln gemalt hat. Ist das nun befreiend oder doch schon zu provozierend? Wie weit darf man überhaupt als Christ in der Kunst provozieren? Gibt es da eine Grenze und wenn ja, wer setzt die Grenze zur Provokation?

Johannes Schreiter: Eine klare Antwort zu dieser Frage ist in jedem Falle schwierig. Die Menschen sind ja alle unterschiedlich veranlagt. Für manchen ist eine scharfe Provokation vielleicht genau das, was er braucht, um aus seiner Enge herauszukommen, für einen anderen aber kann sie dazu führen, dass er sich Neuem gegenüber noch mehr abschottet oder gar militant darauf reagiert. Ich glaube, eine allgemeingültige Grenze, wie weit Provokation im Bereich Kunst gehen darf, kann kaum festgesetzt werden. Als Christ neige ich sicher eher dazu auf den Schwächeren Rücksicht zu nehmen. Wir Künstler hantieren ja doch mit erheblichen Energien. Der Philosoph Rainer Piepmeier beschreibt das so treffend, dass es der Blick der Werke ist, der uns so schonungslos trifft: „Er offenbart uns, was wir nicht sind, er macht uns zu dem, was wir sind, und er zeigt uns, was wir der Möglichkeit nach sein könnten.“ Das soll aber nicht heißen, dass ich den Verletzlicheren grundsätzlich vor Herausforderungen verschonen würde.

Mickey Wiese: Aber der Christus mit Gasmaske kann doch für jemanden, der zB bei einem Giftgasangriff im 1. Weltkrieg oder im Irak oder sonst wo dabei war, sehr tröstlich sein, wenn er sich dadurch vorstellen kann, dass Christus ihm auch in solchen Situationen nicht fern ist.

Johannes Schreiter: Eine Identifikation bewirkt natürlich Gutes, aber nicht jeder kann das nachvollziehen. Vom Gasmasken-Krieg können eben nur einige wenige ein Lied singen. Wem derartige Erfahrungen fehlen, wird solch ein Christus wahrscheinlich nicht in den Kram passen. Sie fühlen sich und ihr Christusbild angegriffen, verunglimpft, beleidigt. Dennoch halte ich es für möglich, Menschen durch eine behutsame Einweisung in das Wesen der Kunst innerlich weiter und offener für das Fremde zu machen, das für sie noch Andersartige. Gott ist schließlich auch immer wieder der ganz Andere, der „in einem unzugänglichen Licht wohnt“ (1.Tim 6,16). Wenn sie spüren, dass dies mit Liebe geschieht und man sie überzeugen kann, dass so ein Gasmaskenbild nicht darauf angelegt war, sie in den Keller zu schicken, halte ich Provokationen für einen Segen. Im Übrigen sind Provokationen, die den Menschen aus Irrtümern, Fehlhaltungen und Enge heraushelfen durchaus biblisch. Was allein Johannes der Täufer und Jesus den Leuten an Herausforderungen zumuteten, das war ja nun auch kein kalter Kaffee.

Mickey Wiese: Nehmen wir mal an ein christlicher Künstler würde in Manier der Blutrituale von Herrmann Nitsch (österreichischer Aktionskünstler, der mit Körperflüssigkeiten malt) am Ostersonntag im Gottesdienst auf dem Altar ein Lamm schlachten und aus dem Blut ein Bild von Jesus malen.

Johannes Schreiter: So etwas kann durchaus aufrichtig gemeint sein. Ich will auch Nitsch da nichts Negatives unterstellen. Trotzdem werde ich den Eindruck nicht los, dass Nitsch seine Blutopferrituale einem Kunstbetrieb ausliefert, wo sie einfach zur Show werden müssen und sich schließlich als reiner Affekt verselbständigen. Gott sei Dank brauchen wir Christen derartige Krücken ohnehin nicht, denn wir haben ja das Abendmahl und an Vorstellungskraft sollte es uns auch nicht fehlen.

Mickey Wiese: Aber auf deinen Passionsfenstern in der Lüneburger St.Nikolaikirche läuft doch auch Blut über das Fenster herunter. Eine solche Provokation soll doch sagen: Das ist es, was beim Abendmahl passiert! Jesus ist das Opferlamm, das für uns geschlachtet worden ist!

Johannes Schreiter: Als eine Botschaft guter Kunst könnte man so ein Schlachthappening sicher noch gelten lassen. Dennoch würde ich es als einen riskanten Eingriff in das heilsgeschichtliche Repertoire Gottes bewerten. Leider wissen wir ja noch weniger als früher, was Kunst eigentlich ist und vermag. Besonders über notwendige Grenzziehungen herrscht absolute Verwirrung. Wir erkennen zB kaum noch wo Kunst in Selbstdarstellungsmuster absinkt oder sich selbst ad absurdum führt. Seit ca.. 40 Jahren sind die ebenso klaren wie inspirierten Aussagen über das Zuständigkeitsspektrum der Kunst zum alten Eisen geworfen worden. Die durchgehend verständlichen und griffigen Definitionen für Kunst, wie wir sie als Studenten noch in Büchern von Herbert Read, Franz Roh, Will Grohmann, Kandinsky, Klee oder Baumeister fanden, hat man längst eliminiert. In der jetzigen postmodernen Phase ist der Kunstbegriff dehnbar wie Kaugummi geworden: da ist entweder alles oder leider auch gar nichts Kunst.

Mickey Wiese: Sollten wir uns denn aus Liebe nur auf das beschränken, was der Großteil der herkömmlichen, traditionellen Gemeinde als annehmbar annimmt?

Johannes Schreiter: Auf keinen Fall! Das würde ja nur auf eine ganz schlappe Anpassung hinauslaufen. Nebenbei gesagt können auch sehr karge Bilder provozieren. Die Arbeiten von Barnett Newman werden sicher nicht von jedem als Bilder akzeptiert, aber welche emotionalen Stürme lösen sie aus. Oder wenn ich für Kreuzwegstationen, das habe ich mal in Münster gemacht, dann nur noch rechteckige Balken mache, die sich einfach nur mehr oder weniger stark zu Boden neigen, dann ist das sicher in dieser unverfrorenen Kälte, ja fast Versachlichung eines menschlichen Vorgangs, einer physisch und psychisch stattfindenden Tragödie, eine fast unzumutbare „Vernüchterung“. Aber das schrittweise Steigern der Provokation scheint mir auf alle Fälle erfolgreicher zu sein. Erst dann würde die extremere Form der Herausforderung genießbare Früchte tragen.

Mickey Wiese: Die Provokation muss also aus einem guten liebenden Herzen kommen, das Ziel haben einen Menschen zu Christus zu führen und sie muss aus der Beziehung zu den potentiellen Kunstbetrachtern kommen und sie einen Schritt weiterführen und nicht versuchen schon den 12. Schritt vorwegzunehmen. Heißt also im Grunde genommen die Grenze der Provokation in der christlichen Kunst Liebe und Beziehung?

Johannes Schreiter: Ja, aus einem pro-menschlichen Herzen muss sie kommen und ihr Ziel, jemandem die Augen für die Wahrheit zu öffnen, wäre gewiss das Wichtigste, was Provokation überhaupt leisten könnte. Ihre Aufmerksamkeit müsste darauf gerichtet sein, eine bestimmte Zielgruppe oder Person auf eine höhere Ebene menschlicher Existenz zu hieven. Ein gutes Beispiel für eine Provokation sind die 2 Flaschen neben einem Holz mit Kreuz von Joseph Beuys, als die zwei Frauen, die bei der Kreuzigung dabei waren. Da muss man erst einmal nachdenken. Anders ist es bei Dingen wie zB dem Bild „Der Tanz um das Kreuz“ von Georg Baselitz, wo er das Kreuz auf den Kopf stellt, und das dann in den Altarraum hängt. Die Bilder von Georg Baselitz halte ich diesbezüglich für relativ problematisch, weil er ja seit 1969 alle menschlichen Figuren auf den Kopf stellt. Wenn also ein Kopfstand zum Prinzip wird oder als Stilmerkmal herhalten muss, dann ist seine Provokationswirkung einfach zu indifferent. Ein Muster sagt mir grundsätzlich, dass ich persönlich gar nicht gemeint sein kann. Nachdem ich überhaupt einsehen musste, dass der Verbrauch expressiver, erschütternder Bilder erschreckend schnell vor sich geht, die Leute sich sehr schnell an so etwas gewöhnen und von den Massenmedien ausgiebig in die Abstumpfung getrieben werden, habe ich mich in meinem neueren Schaffen auf beinahe vergessene Herausforderungen zurückbesonnen. Ich habe wieder den Weg in die unwegsamen Gefilde ausgesprochen unpopulärer Schönheit angetreten, zu einer Erscheinungsform der Schönheit, die der Wahrheit zugewandt ist. Diese eher spröde Schönheit ist für viele durchaus auch schockhaltig. Erst neulich rief mich eine junge Frau an, die mit dem Metier Glasmalerei sehr vertraut ist und die eigentlich emotional nicht so leicht aus den Angeln zu heben ist. Sie erzählte mir, dass sie gerade mein letztes freies Glasbild betrachtet hätte und ihr dabei die Tränen gekommen wären. Das Bild zeigt ein paar abstrakte Formen in blau und weiß. Es hat jedenfalls absolut nichts Aufwiegelndes an sich. Aber seine provozierende Wirkung, die offensichtlich an die Nieren geht, besteht wahrscheinlich in der Dichte jener unpopulären Schönheit, die vorausahnen lässt, was einmal sein wird: nicht hier, aber dort! Da hantiere ich mit einem Schönheitsbegriff, der einfach nicht zu killen ist, den auch Augustinus immer wieder ansprach. Wir verfügen anscheinend tief in uns über ein Wahrnehmungsorgan, das uns diese Art von Schönheit, die in einer relativen Vollkommenheit das Absolute vorwegnimmt, erkennen lässt. Etwas durch und durch Vorläufiges, ein Bild, öffnet uns die Augen für Endgültiges.

Mickey Wiese: Wenn ich da dann auch noch einmal an den lateinischen Ursprung denke, dann heißt doch pro-vocare eigentlich „für etwas rufen“ und dadurch dann etwas aus dem Nichtsein ins Sein hervorrufen, so dass im Grunde genommen alles provozierend wäre, wo ich etwas darstelle, das noch nicht da ist. Wenn du etwas Schönes darstellst und ein Mensch kommt daher, der nichts Schönes in seinem Leben hat, dann berührt ihn das, dann provoziert ihn das, während es bei einem anderen vielleicht eben was ganz anderes ist. Da sind wir dann wieder bei dem, was wir vorhin gesagt haben, Kunst muss für etwas, auf ein Ziel hin gerichtet sein. Die eigentliche Provokation besteht darin, dass wir mit dem künstlerischen Objekt etwas laut und deutlich darstellen, das den Betrachtern verlorengegangen ist?

Johannes Schreiter: Das ist richtig. Wenn Kunst wirklich, wie es viele nachdenkende Menschen in den letzten 2000 Jahren immer wieder betont haben, der Wahrheit auf den Fersen ist in irgendeiner Form, auch der absoluten Wahrheit und die Möglichkeit hat auf diese absolute Wahrheit hinzuweisen, dann muss sie provokativ sein. Denn Wahrheit war für den gefallenen Menschen grundsätzlich schon immer eine Provokation, der er am liebsten ausweicht. Wenn die Provokation in der Politik hauptsächlich dazu dient, den Gegner zu mehr oder weniger unbedachten Aussagen und Handlungen zu verführen, so kann sie in christlicher Hand grundsätzlich dazu dienen, das verschüttete Gute und Wertvolle im Menschen wieder freizusetzen.

Mickey Wiese: 1990 hast du in einem Statement gesagt: „Bonhoeffer sagt, das Leben ist Gottes Ziel mit uns. Vielleicht ist die Kunst ein bescheidenes Lebensmittel auf diesem Weg.“ Und das finde ich eigentlich eine gute Eingrenzung von Provokation in der christlichen Kunst: sie soll ein Lebensmittel sein, ein Hinweis auf das Ziel des Lebens. Vielen Dank für das Gespräch, lieber Johannes.